KARMAL: Heute, da die Bevölkerung in der Nationalen Front ihre Reihen enger schließt, werden wir moralisch und militärisch tagtäglich stärker. Das afghanische Volk bewaffnet sich gegen die Feinde und wird seine Unabhängigkeit, seine nationalen Gefühle, seine Familien verteidigen. Neben ihnen steht die afghanische Armee, die unter der Herrschaft des CIA-Agenten siebenmal von Patrioten gesäubert wurde.
SPIEGEL: Wie lange wird es dauern, bis die sowjetischen Truppen und die afghanische Armee mit ihren Feinden fertig geworden sind?
KARMAL: Hier muß ich Ihre Frage korrigieren: Die Truppen aus der Sowjet-Union stehen den vom Ausland entsandten Aggressoren noch nicht in einem offenen Krieg gegenüber. Wie ich gesagt habe, sie sind eine Reservekraft. Es ist die afghanische Armee, die kämpft.
Ich hoffe, daß sich in Pakistan die Vernunft durchsetzt und dort versucht wird, den Aggressoren das Handwerk zu legen. Wir wollen mit unseren Nachbarn, besonders Pakistan und S.144 Iran, in Frieden leben, wir sind Brudervölker.
SPIEGEL: Welche Beweise haben Sie nach Ihrer Machtübernahme für die These gefunden, daß Ihr Vorgänger Amin mit den Pakistani konspiriert hat und sich den Amerikanern zuwenden wollte?
KARMAL: Ich muß erneut Ihre Frage richtigstellen: Ich habe die Macht nicht an mich gerissen. Das war der revolutionäre Wille des afghanischen Volkes. Die demokratischen und freiheitsliebenden Kräfte arbeiteten schon zu Zeiten Amins im Untergrund.
Ein großer Teil dieser Kräfte blieb öffentlich und sogar ganz offiziell in der Regierung. Der legale Wille dieser Kräfte, das heißt der Mehrheit im Revolutionsrat und im ZK der Demokratischen Volkspartei, hat mir diese Verantwortung übertragen ...
SPIEGEL: Gut, aber wie ist es mit den Beweisen gegen Amin?
KARMAL: Es sind Dokumente vorhanden, daß Hafisullah Amin bei Gelegenheit einer außerordentlichen Uno-Konferenz geheime Gespräche mit hohen amerikanischen Regierungsbeamten geführt hat. Nachdem er nach Afghanistan zurückgekehrt war, hat er langsam, langsam die Macht an sich gerissen. So führte er eine Verschwörung gegen die Partei, gegen das Volk, gegen die Revolution und schließlich gegen die Regierung. Die Dokumente darüber wurden in Kabul veröffentlicht.
SPIEGEL: Es klingt ziemlich unglaubhaft, daß ein Mann, der Außenminister und Vizepremier der Revolutionsregierung war, über Nacht in die Dienste der USA getreten sein soll.
KARMAL: Wir kennen die Verschwörung gegen Mossadegh im Iran. Diese Aufgabe hatte Amin in Afghanistan übernommen. Es gibt noch einen historischen Beweis: Als Amin 1955 in Amerika studierte, war er Vorsitzender der afghanischen Studentenschaft in den USA. Selbst aufrichtige Journalisten in Amerika bezeugen, daß damals niemand Chef einer ausländischen Studentenorganisation werden konnte, ohne sich der CIA zu unterwerfen.
Seine Verbindungen mit der schwarzen Reaktion in Amerika, mit der chauvinistischen Führung Chinas und mit Pakistan wurden auch in der indischen Presse entlarvt. Sogar Pakistans Staatspräsident Sia-ul Hak hat seine Verbindung zu Amin eingestanden. Ein anderer Beweis ist seine Verteidigung durch Carter: Ein Mensch, der den Vorsitzenden des Revolutionsrates, Taraki, nach dessen Rückkehr von einer Auslandsreise nach Kuba verschwörerisch umgebracht hat, wird vom US-Imperialismus verteidigt] Ist das nicht ein akzeptabler Beweis, daß er Agent der CIA gewesen ist?
SPIEGEL: In ersten Meldungen aus der Sowjet-Union hieß es, Amin habe die Sowjet-Truppen ins Land gerufen. Nach anderen Meldungen sollen Sie es gewesen sein. Was ist denn nun richtig?
KARMAL: Nach der April-Revolution von 1978 hat Mohammed Taraki nach entsprechenden Beschlüssen des Revolutionsrates und der Regierung die Sowjet-Union um die Entsendung von Hilfstruppen gebeten, etwa 14mal.
Damals war die ausländische Aggression noch nicht so offensichtlich, Amerika setzte seine Hoffnungen auf Amin. Aber nach der Ermordung von Taraki war die Notwendigkeit der Hilfe durch die Sowjet-Union unentbehrlich. Damals bin ich auf geheimen, revolutionären Wegen nach Afghanistan gekommen und war im afghanischen Untergrund aktiv.
SPIEGEL: An welchem Tag genau sind Sie nach Afghanistan zurückgekommen?
KARMAL: 15 Tage nach dem Nur Mohammed Taraki getötet wurde. Sofort habe ich in Zusammenarbeit mit Freunden die Kräfte des Widerstandes organisiert, selbstverständlich im Untergrund. Auch mit der Mehrheit der Mitglieder des Revolutionsrates, die offiziell in der Regierung, aber unsere Genossen waren, haben wir Verbindung aufgenommen.
Wir waren die Mehrheit, in der Regierung und auch im ZK der Partei. Alle waren der Meinung, daß Amin vor Gericht gehörte und bestraft werden sollte.
SPIEGEL: Was dann aber nicht geschah ...
KARMAL: ... weil Afghanistan in Gefahr war, geteilt zu werden, unsere territoriale Integrität und unsere nationale Souveränität in Gefahr gerieten. So wurde Amin einige Tage vor dem 27. Dezember durch den Druck der Mehrheit in Revolutionsrat und ZK gezwungen, die Sowjet-Union um begrenzte Truppenkontingente gegen eine jeden Moment mögliche Aggression von seiten Pakistans zu bitten. Ohne daß ich persönlich von dieser Bitte wußte und ohne Einflußmöglichkeiten kamen die sowjetischen Militäreinheiten nach Afghanistan.
SPIEGEL: Wenn sich Afghanistan und auch die Sowjet-Union von auswärtigen Mächten akut bedroht sahen, warum haben beide dann nicht den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen angerufen?
KARMAL: Das war überhaupt nicht notwendig. Wir sehen dieses Problem als innerafghanische Angelegenheit. Der Wille des afghanischen Volkes sprach dafür, daß wir einen selbstlosen Freund, der ein Verteidiger der Freiheit und des Friedens in der ganzen Welt ist, um Hilfe baten. So sahen wir keine Notwendigkeit, uns an den Sicherheitsrat zu wenden.
SPIEGEL: Der pakistanische Präsident Sia-ul Hak hat vorgeschlagen, entlang der pakistanisch-afghanischen Grenze eine Friedenstruppe zu stationieren, die Grenzverletzungen verhindern soll. Warum haben Sie diesen Vorschlag abgelehnt?
KARMAL: Das ist wieder einer der skrupellosen Vorschläge der imperialistischen Monopole und Nato-Kreise. Auch Pakistan steht unter dem Diktat dieser Kreise. Es wäre besser, wenn die sogenannten Kräfte des internationalen Friedens nach Pakistan gingen, um den Völkern Pakistans zu helfen, die massiv unterdrückt werden.
SPIEGEL: Nach westlichen Presseberichten vernichten die Sowjets im Kampf gegen die Gegner Ihrer Regierung ganze Dörfer und setzen dabei auch Giftgas ein.
KARMAL: Das sind Lügen der westlichen Medien, ist die giftige Propaganda gegen das afghanische Volk. Weil die imperialistischen Monopole und die Chauvinisten in China selbst solche Verbrechen, zum Beispiel in Vietnam, begangen haben, versuchen sie die menschlichste und friedlichste Kraft in der Welt, die Sowjet-Union, zu verleumden.
SPIEGEL: Es gibt Berichte, nach denen es am 21. und 22. Februar in Kabul zu Straßenkämpfen gegen Ihre Regierung gekommen ist.
KARMAL: Das waren keine Straßenkämpfe, das war ein begrenzter Aufruhr. Er entsprach genau dem Plan der reaktionären Kräfte vor dem 27. Dezember. Die ausländischen Feinde schleusten ungefähr 6000 Banditen, Mörder und Terroristen in unser Land. S.145
Dieser Aufruhr wurde vor allem durch die Agenten des israelischen Geheimdienstes Mossad inszeniert, der, wie Sie wissen, enge Verbindungen zur Savak des Schah gehabt hat. Die Provokateure haben 35 Stunden auf alles geschossen und auch Handgranaten geworfen.
SPIEGEL: Auch die afghanische Armee hat geschossen.
KARMAL: Trotz der angezettelten Gewalttätigkeit gab ich anfangs niemandem den Befehl, auf diese Elemente zu schießen -- bis festgestellt wurde, daß sie Frauen und Kinder angriffen, die Ordnung mißbrauchten und Brandanschläge verübten. In nur wenigen Stunden hatten wir diese Elemente mit Hilfe von Wasserwerfern umzingelt.
SPIEGEL: Was ist mit den Verhafteten geschehen?
KARMAL: Von den 1700 Festgenommenen wurden 1300 nach kurzer Zeit wieder freigelassen, sie begriffen, daß der Feind seine Hände bei dieser Aktion im Spiel hatte. Ungefähr 200 Leute werden noch gefangengehalten. Wenn sie unschuldig sind, werden auch sie freigelassen; diejenigen, die Drahtzieher waren, werden vor Gericht gestellt. Es sind auch 15 Pakistani aus der Provinz Pandschab dabei und ein ägyptischer Spion, der zugegeben hat, Kontakt zu der CIA zu haben.
SPIEGEL: Westliche Presseagenturen haben gemeldet, daß in den zwei Tagen Hunderte ums Leben gekommen seien.
KARMAL: Immer wenn Sie von westlicher Presse reden, sind das reine Lügen. Weil diese Lügen dermaßen skrupellos und ungeheuerlich sind, kann man darüber nur lachen.
SPIEGEL: In Afghanistan wird davon gesprochen, daß unter der Herrschaft Amins Hunderttausende ums Leben gekommen sind. Ist das auch eine Lüge?
KARMAL: Mehr als 99 Prozent des afghanischen Volkes haben die April-Revolution unterstützt. Aber Amin hat durch seine verräterische Verschwörung und seine faschistischen Methoden mehr als eine Million, 1,5 Millionen Menschen, erbarmungslos durch Massenmord vernichtet.
SPIEGEL: Stimmt es, daß auch ganze Dörfer bombardiert und ihre Einwohner ausgerottet wurden?
KARMAL: Ja, sehr viele Dörfer sogar. Amin hat ohne Wissen des Revolutionsrates und des ZK der Demokratischen Volkspartei die Befehle erteilt. Und diejenigen, die solche Befehle ausführten, dachten, daß es wirklich Einsätze gegen den Feind seien.
SPIEGEL: Wurden im Dezember außer Amin noch andere Verantwortliche verurteilt und hingerichtet?
KARMAL: Während des Aufstandes vom 27. Dezember wurden einige seiner Anhänger, drei oder vier Personen, getötet, weil sie Widerstand leisteten. Die Elemente, die an Amins Verschwörung beteiligt waren, sitzen im Gefängnis. Es sind ungefähr 200 Mann, sie werden genau vernommen und vor Gericht gestellt. Die Verhandlungen werden menschlich und demokratisch sein.
SPIEGEL: Sie als Marxist haben bei öffentlichen Auftritten mehrmals ihren tiefen Respekt vor der Religion des Islam erklärt. Sind Sie zum Islam zurückgekehrt?
KARMAL: Erlauben Sie mir zu fragen, wann ich mich nach dem 27. Dezember als Marxist bezeichnet habe?
SPIEGEL: Sie haben recht, wir kennen kein Zitat.
KARMAL: Deshalb trifft Ihre Frage auch nicht. Afghaner sind von jeher aufrichtige, ehrliche Moslems gewesen und werden es bleiben. Kein Verantwortlicher der Regierung wird gegenüber dem afghanischen Volk Mißachtung zeigen.
SPIEGEL: Stimmt es, daß Sie als Parlamentsabgeordneter einmal den Koran verbrannt haben?
KARMAL: Das ist wieder die hinterlistige Propaganda des Westens. Sie können alle meine Vorträge und Reden während meiner Abgeordnetenzeit von acht Jahren nachschlagen, sie liegen alle schriftlich vor. Ein Mensch, der nur ein bißchen Humanität und keinen tierischen Charakter besitzt, weiß, daß jeder, der in Afghanistan eine solche Tat begeht, auf der Stelle vernichtet werden würde.
SPIEGEL: Wie sehen Sie die Zukunft für den Süden Ihres Landes? Wird die Sowjet-Union unter Einbeziehung von Südwest-Pakistan eine Volksrepublik Belutschistan ins Leben rufen?
KARMAL: Diese Frage ist absolut unsinnig. Afghanistan verteidigt seine nationale Souveränität ebenso wie seine territoriale Integrität gegen ausländische Aggressionen. Im Grunde ist Pakistan die Basis der aggressiven Aktionen. Auch für die Sowjet-Union ist diese Frage unsinnig.
Ich wiederhole und betone mit aller Deutlichkeit: Die Sowjet-Union wird uns, falls die Regierung Afghanistans es fordert, gegen jede öffentliche Aggression innerhalb der afghanischen Grenzen unterstützen. Sonst existieren hier keine Pläne und Ziele.
SPIEGEL: Sie schließen damit auch aus, daß jemand aus dem benachbarten pakistanischen Belutschistan Sie oder die Sowjet-Union um brüderliche Hilfe bittet?
KARMAL: Das Thema der Beziehungen der Sowjet-Union zu Belutschistan ist durch die Propaganda des Westens hochgespielt worden. Das ist eine verleumderische Intrige.
SPIEGEL: Herr Karmal, was müßte der Westen, was müßten Ihre Nachbarn tun, damit Sie als Vorsitzender des Revolutionsrates, als afghanischer S.146 Premierminister und als Generalsekretär der Demokratischen Volkspartei in der Lage wären, die sowjetischen Freunde wieder nach Hause zu schicken?
KARMAL: Die Länder, die für den Frieden und die Sicherheit in dieser Region sind, sollen einzig und allein ihre Aggression und Einmischung, ihre Provokation und Propaganda aufgeben. In diesem Fall, ich betone es noch einmal, werden alle Truppen der Sowjet-Union Afghanistan verlassen. Dann wird ein freies, unabhängiges, revolutionäres Afghanistan in Frieden mit allen Völkern der Region, insbesondere mit dem iranischen und dem pakistanischen Volk, leben.
SPIEGEL: Sie sollen einmal gesagt haben, daß Sie der deutschen Kultur ein prägendes Bildungserlebnis verdanken. Stimmt das?
KARMAL: Eine solche Äußerung habe ich nie getan. Das afghanische Volk hat gegenüber den Deutschen historisch gesehen Sympathien, das gilt natürlich nicht für den deutschen Faschismus. Die Sympathien galten einem Volk mit hoher Kultur, mit hoher Zivilisation, mit großen Begabungen und dem Volk, das in Technologie, Wissenschaft und Kunst ein wertvolles Erbe übernommen hat.
Aber es muß ein Unterschied gemacht werden zwischen dem deutschen Volk und den Herrschenden. Heute hilft uns die Deutsche Demokratische Republik ohne die kleinste Diskriminierung oder ohne irgendwelche Gegenleistungen zu erwarten, ökonomisch und technisch.
SPIEGEL: Für die Bundesrepublik Deutschland gilt das nicht?
KARMAL: Auch für die Bundesrepublik sind die Türen offen, vorausgesetzt, daß sie sich nicht in die inneren Angelegenheiten Afghanistans einmischt, daß sie ihre verleumderische Propaganda unterbindet und unsere Feinde, das heißt die reaktionären Kräfte Afghanistans, in Deutschland nicht unterstützt. Daß Deutschland den Reaktionären Zuflucht gewährt, hat das afghanische Volk tief enttäuscht.
SPIEGEL: Stimmt es, daß Sie in den sechziger Jahren heimlich in der Bundesrepublik waren?
KARMAL: Nein, das ist nicht wahr. Ich habe Deutschland bisher nicht besuchen können.
SPIEGEL: Bisher ist jeder Versuch einer fremden Macht, sich in Afghanistan festzusetzen, gescheitert. Glauben Sie, daß es den Sowjets anders ergehen wird?
KARMAL: Ich sage noch einmal, als ein Mann, der sein Vaterland liebt, der sich in den Dienst seines Volkes gestellt hat, als ein Politiker, der die nationale Unabhängigkeit, die nationale Souveränität und die territoriale Integrität verteidigt, als erklärter Feind des alten und neuen Kolonialismus, als Gegner von Imperialismus, Zionismus, Rassismus, Faschismus und Apartheid, als Politiker, der sich für eine glückliche und demokratische Gesellschaft einsetzt: Daß die Sowjet-Union das afghanische Volk beherrschen will, ist reiner Unsinn.
SPIEGEL: Herr Präsident, wir danken Ihnen für das Gespräch.
S.139Mit SPIEGEL-Mitarbeiter Mosstafa Danesch.*S.145Mit Stahlhelmen nach deutschem Weltkrieg-I-Modell.*